Wer später bremst, ist länger schnell

15.11.2010

Man nehme eine gerade Stecke, ohne besondere Steigungen, eine ganz kurze U-Bahnfahrt zwischen zwei Haltestellen. „Wie heißen jetzt die fahrdynamischen Phasen?“, will Jürgen Kunzendorf wissen. Der Fachbereichsleiter für Video-, Audio- und Funktechnik bei der Hamburger Hochbahn hat dazu ein paar Vorschläge auf einzelnen Blättern notiert. Jetzt sind die Walddörfer Schüler gefragt. Paul steht an der Magnetwand und sortiert: „Beschleunigen, Rollen, Nachbeschleunigen, Geschwindigkeit halten, Bremsen“, wäre eine sinnvolle Reihenfolge, findet der 18-Jährige. Aber seine Mitschüler haben noch ganz andere Vorschläge: erst Geschwindigkeit halten, dann Nachbeschleunigen beispielsweise. Der Bereichsleiter gibt einen Tipp: „Es werden nicht alle Zettel gebraucht.“

Beschleunigen, Rollen, Bremsen

„Rollen kommt auf jeden Fall vor dem Bremsen“, sagt Fabian lakonisch. Paul hüpft an der Tafel hin und her „Lass dich von den anderen nicht ins Bockshorn jagen“, fordert sein Physiklehrer Christian Grosche. „Es ist viel einfacher als Sie denken“, hilft Kunzendorf weiter. „Beschleunigen, Rollen, Bremsen“, rufen die Schüler. Der Diplomingenieur ist einverstanden, Paul enttäuscht: „Jeder kann eigentlich U-Bahn fahren.“ Das mag sein, aber nicht jeder macht es richtig. Wer über das Ziel hinausschießt, kriegt Ärger und auch mal eine Nachschulung. Wer zu stark oder zu früh bremst, verschwendet Ressourcen - und genau darum dreht sich die Projektaufgabe der Profilschüler.

Wer später bremst, ist länger schnell
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Riesiger Stromschlucker

140 Gigawatt bezieht die Hochbahn jedes Jahr von ihrem Stromanbieter Vattenfall - eine unvorstellbare Summe mit insgesamt neun Stellen, erläutert der Fachbereichsleiter. Hauptstromfresser ist die Fahrzeugantriebsleistung, Traktion genannt: „Neun Millionen zahlen wir jedes Jahr allein dafür, dass die U-Bahnen fahren.“ In Zeiten steigender Strompreise zu viel, vor allem wenn es auch energieeffizienter geht. Wie, das sollen die Schüler in einer Gruppenaufgabe herausfinden. Der Besuch der Hochbahn in der Hellbrookstraße ist nur der Auftakt in einen „systematischen Ansatz zur Lösungsfindung“, den Kunzendorf insgesamt in sieben Phasen unterteilt: „Bleiben Sie zunächst noch beim ersten Schritt: Handlungsbedarf erkennen und verifizieren.“

Schritt für Schritt

Dafür sollen die Schüler sich zwei Haltestellen aussuchen, die nah beieinander liegen und Messreihen anlegen: „Sie haben den Tacho im Blick, nutzen die Stoppuhr und stellen mehrere Fahrschaulinien auf.“ Der Ingenieur hat den Schülern den Energiebedarf des Fahrzeugs abhängig von der Beschleunigung sowie den Energiepreis an die Hand gegeben, aber die sind schon ein paar Schritte weiter: „Könnte man nicht im Fahrerhaus einen Knopf einbauen, der automatisch die Entfernung zur Haltestelle ausrechnet und den perfekten Bremsvorgang einleitet“, lautet ein Vorschlag. „Wenn es um einen Knopf geht, sind wir schon bei der Realisierung, aber prüfen Sie doch erst einmal, was wir damit sparen können und ob sich das lohnt“, bremst Kunzendorf.

Vier Phasen zum Ziel

Was die Walddörfer Stadtteilschüler in den nächsten Wochen zu tun haben, hat der Fachbereichsleiter in vier Phasen unterteilt: Verifizieren, Konzipieren, Kosten schätzen und die technische Lösung konkretisieren. „Mit den letzten drei Phasen, der Kalkulation, Mittelbereitstellung und Realisierung will ich Sie nicht belästigen, das übernehmen wir.“ Aber die Profilschüler sind ganz guter Dinge, dass sie zu einer guten Lösung kommen werden: „Was ist, wenn wir dabei ein Patent entwickeln, wie werden wir am Erfolg beteiligt“, will Andree wissen.

Wer später bremst, ist länger schnell
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Beflügelnder Enthusiasmus

Das Beispiel des Hochbahn-Vorstandes Ulrich Sieg hat den 17-Jährigen offenbar beflügelt: Vor der Besprechung der Gruppenaufgabe hatte Sieg sich dazu gesetzt und über seinen Werdegang erzählt: Vom Volkschüler, dem der Lehrer allenfalls eine Zukunft als Handwerker prophezeit hatte, über den Blaumann bei VW und zweiten Bildungsweg zum Diplomingenieur der Technischen Universität Berlin. „Anschließend bin ich mit 28 Jahren in den großen Hochbahnbetrieb eingestiegen“, sagt Sieg und schlägt mit flachen Hand bekräftigend auf den Tisch: „Ich bin 32 Jahre in diesem Konzern tätig und ich kann Ihnen heute sagen, es gibt nichts Schöneres als so einen Job, so eine Entwicklung und solch ein Unternehmen!“

Spannende Jobs auf allen Ebenen

Die Botschaft des Diplomingenieurs an die Zwölftklässler: Die solide Basis ist wichtig, das Verständnis auch für die Mitarbeiter in der Werkstatt oder der Leitstelle, gerade wenn man sich selbst weiter entwickeln will. Mit so wenig Fahrzeugen wie möglich einen reibungslosen Ablauf garantieren, das gehe nur gemeinsam, mit einer breiten technischen Ausbildung, mit „Grips und Köpfchen“, so der Vorstand für Betrieb und Infrastruktur. Auch wenn bei insgesamt vier Vorstandsmitarbeitern nicht jeder bis an die Spitze gelangen könne: „Aber auf dem Weg in der Hierarchie gibt es viele Entwicklungsmöglichkeiten und spannende Jobs“, betont Sieg. „Das ist hier niemals Schmalspur.“

Weichenstellen für eine technische Laufbahn

Klar ist, der Hochbahnvorstand will in den Köpfen der Schüler die Weichen stellen für eine technische Zukunft. „Warum entscheiden sich immer weniger junge Menschen dafür, in technische Bereiche zu gehen“, fragt Sieg und er bekommt darauf indirekt ein paar Antworten: „Ein Physikstudium ist so schwer, kann man da überhaupt so gute Noten wie etwa in einem betriebswirtschaftlichen Studium schaffen?“, fragt Fabian. Und lohne sich der Aufwand: „Wie sind denn so die Gehälter bei der Hochbahn?“

Entscheidung fürs Wohlbefinden

Die Antworten der Hochbahnchefs und seiner Leiterin für Berufsausbildung, Kirsten Meins, machen deutlich: Es gibt mehr als gute Noten und Spitzengehälter. Gute Sozialleistungen, hohe Berufszufriedenheit und örtliche Verbundenheit etwa, zumindest wenn man Familie habe, betont Ulrich Sieg. Und einen Job, für den man so brennt, wie der Vorstand, der Werkstattleiter oder der Funktechnikleiter es den Walddörfern heute bei der Hochbahn vermitteln konnten: „Treffen Sie für sich die richtige Entscheidung“, gibt Sieg den Schülern noch mit auf den Weg. Zumindest was den Start in die Projektaufgabe betrifft, ist die Entscheidung schon gefallen: „Das hat Spaß gemacht“, sagen Kevin, Marlene und Malte stellvertretend für 20 Mitschüler.

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