Schwarz-gelb geerdet: Schüler prüfen die Elektrostatik im Werk

04.11.2010

Eine knallgelbe Linie markiert das Aufgabengebiet der 23 Physikschüler vom Matthias-Claudius Gymnasium (MCG): „Alles was jenseits dieser Linie ist, ist geschützter Bereich und sollte ESD-tauglich sein“, sagt Stefan Busch. Der promovierte Ingenieur ist Mercedes-Benz Produktionsplaner im Werk Hamburg und nebenbei einer der „ESD-Botschafter“. Was hinter dem Kürzel ESD (Electro Static Discharge) steht, wissen die Schüler bereits aus dem Physikunterricht. Zu welchen Schäden elektrostatische Entladungen in der Automobilproduktion führen können, hat Busch gerade eindrucksvoll vorgetragen. Nun ist die Praxis dran: Welche Schutzmaßnahmen und mögliche Schwachstellen gibt es überall da, wo mit elektronischen Bauteilen gearbeitet wird, lautet die Aufgabenstellung an die MCGler. „Schauen Sie sich um. Sie werden gewisse Abweichungen feststellen“, prognostiziert Busch.

Voll geerdet

Um selbst nicht ungewollt zu einem Impulsgeber zu werden, tragen die Schüler bei ihrem Werksrundgang Sicherheitsschuhe: Die kompakten Schnürschuhe wirken antistatisch, wie eine gelbe Prüfplakette signalisiert und sind außerdem „voll bequem“, wie Carmen betont. So „voll geerdet“ greift die Schülerin zum Elektrofeldmeter und hält es an eine schwarze Schlauchfolie: Das Messgerät reagiert nicht. „Diese Folien enthalten einen Rußzusatz und sind sehr leitfähig. Wie benutzen sie für Baugruppen niedriger Empfindlichkeit“, erklärt Busch. Anders ist das mit einer durchsichtigen Klarsichtfolie: Linda reibt an der Folie, Anton misst und staunt: Das Elektrofeldmeter meldet eine Spannung von 12.000 Volt. 100 Volt sind im ESD-geschützten Bereich zugelassen.

Schwarz-gelb geerdet: Schüler prüfen die Elektrostatik im Werk
Schwarz-gelb geerdet: Schüler prüfen die Elektrostatik im Werk
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Schwarz-gelb geerdet: Schüler prüfen die Elektrostatik im Werk

Hohe Spannung

„Wie oft habt ihr an der Folie gerieben, dass ihr auf 12 Kilovolt gekommen seid“, will Physiklehrer Andreas Spangenberg wissen, als die Gruppe nach dem Rundgang ihre Ergebnisse präsentiert: „Nur ganz kurz“, versichert Anton. „Wenn man sich vorstellt, man nimmt diese Folie und zieht sie von irgendetwas weg, kann man wahrscheinlich schon von 1.000 bis 2.000 Kilovolt ausgehen“, verdeutlicht der Physiklehrer die Dimension. Anton hat das direkt vor Ort recherchiert: „Beim Hochheben der Folie gab es früher Blitze und auch schon Stromschläge.“ „Früher“, betont Anton, weil die alte Folie inzwischen prinzipiell durch ESD-fähige Folie ersetzt wurde, jedenfalls im geschützten Bereich. Ebenso wie die blauen Transportkästen durch schwarze leitfähige Systeme ersetzt wurden.

Teure Mittagspause

Mittendrin in diesem „schwarz-gelb“ geerdeten Bereich sitzt ein Mitarbeiter am Tisch, ausgerüstet mit Kunststofftrinkflasche, Brottüte und Zeitung. „Es gibt keine separaten Essbereiche“, bemängelt Anna-Lisa bei der Präsentation der Gruppenergebnisse und verdeutlicht, was die Mittagspause im ESD-Bereich für Folgen haben kann: „Ein Mülleimer mit Plastiktüten hatte bei unserer Messung 182 Volt. Nähert man sich damit den Schaltungen, die in der gelb markierten Zone offen herumliegen, dann verschieben sich in der Schaltung die Ladungen.“ Beispielsweise richteten sich die positiven Ladungen auf den negativ geladenen Mülleimer aus, so die 17jährige: „Fasst nun ein Mitarbeiter in die aufgeladenen Schaltungen, bekommt er einen Schlag und die Schaltung ist hinüber.“ Eine ziemlich teure Mittagspause - und eine von vielen Schwachpunkten, welche die Schüler aufdecken. Aber sie erfahren auch, dass die Handhabung im Werk immer ein Kompromiss zwischen den ESD-Botschaftern und beispielsweise dem Betriebsrat ist. „Das ist hier oft ein Knochenjob. Die Mitarbeiter müssen schon ihre Trinkflasche bei sich haben dürfen“, erklärt Busch.

Schwarz-gelb geerdet: Schüler prüfen die Elektrostatik im Werk
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800 Achsen für 3 Klassen

Linda will es genau wissen: „Dürfen wir Sie kurz messen“, fragt die Schülerin einen Werksmitarbeiter. Der grinst und hat auch nichts gegen eine kurze Rückenmassage: 330 Volt meldet das Elektrofeldmeter. Aber egal wie geladen sie sind, ohne die Mercedes-Mitarbeiter keine noch so leistungsstarke A-, B- oder C-Klasse. Nicht einmal da, wo im Hamburger Werk hauptsächlich Industrieroboter die Achsen für die C-Klasse montieren. Nimmt man allen möglichen Kombinationsmöglichkeiten zusammen, entstehen 800 verschiedene Achsen, wie Ingenieur Busch erklärt. „Wie bauen just in time und just in sequence. Das heißt wir bauen die Achsen einen Tag, bevor sie in Bremen verbaut werden, genau in der Reihenfolge, wie die Kunden es bestellt haben.“

Rekordgeschwindigkeit

Das geht nicht ohne ganz viel Planung, Kontrolle und System. Und nicht ohne die Techniker, die den Robotern Feinarbeiten abnehmen, aber dabei das Arbeitstempo gleichmäßig im Takt der Maschinen halten müssen: 61 Sekunden für eine Achse. Die Schüler blicken gebannt durch eine Sicherheitsscheibe auf mächtige Roboterarme, die ruckartig gestikulieren, dann sekundenlang vor einer Mutter anhalten und diese langsam aufgreifen. „Wahnsinn, wie ein mächtiger Vogel Strauß“, findet Christoph. Der 18jährige hat seine berufliche Zukunft voll im Blick und sich auch schon beworben. Entweder will er als Fluggerätemechaniker bei Lufthansa Technik oder als Maschinenbauer bei Mercedes Benz anfangen. Und auf jeden Fall als Anzugträger enden.

„Nitrous“ bekommt einen Sponsor

Da will Günther Hoffmann gerne als Vorbild dienen. Der Produktionschef hatte die Schüler zu Beginn der Exkursion um 8.30 Uhr in der Früh begrüßt und sich dann unter Hinweis auf seinen durchgetakteten Tagesplan verabschiedet. Am Ende sucht der Ingenieur die Schüler noch einmal auf: „Wie hat es Euch bei uns gefallen? Was können wir besser machen? Können wir noch etwas für Euch tun?“, möchte er wissen. Mehr Praxis, weniger Theorie, wünscht sich Aramasd: „Ich hätte gerne mehr vom Werk gesehen.“ Christoph hat da noch ein ganz persönliches Anliegen und reicht dem Produktionschef eine Visitenkarte. „Christoph Paff, Teammanager“ ist darauf zu lesen. Für den Technologiewettbewerb „Formel 1 in der Schule“ sucht das MCG-Schülerteam „Nitrous“ noch einen Sponsor, der einen Holzklotz fräsen könnte. „Kein Problem, ich kümmere mich darum“, sagt Hoffmann. Fragen schadet bekanntlich nie. Jetzt benötigt das Team „Nitrous“ noch zwei Dinge: Durchhaltevermögen und Power - beim Abi und auf der Rennbahn.

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