Physik am eigenen Körper begreifen
03.12.2011Geburtstagsstimmung im neu eingerichteten Lehrerarbeitszimmer des Marion Dönhoff Gymnasiums. Einen Stapel blauer Pakete hat Professor Michael Morlock mitgebracht und packt nun fröhlich aus: zunächst eine Halbkugel aus Keramik und eine entsprechende Metallpfanne. Dann in einem zweiten Paket einen Schaft, der kugelförmig endet und damit zu Halbkugel und Pfanne passt wie ein Schlüssel ins Türschloss. „Das ist eine künstliche Hüftprothese der neuesten Generation“, zeigt sich Morlock begeistert. Das nächste Paket enthält eine Metallkufe, die der Biomechaniker auf eine dazu gehörige Kunststofffläche montiert. „Die Minimalform einer Knieprothese, gerade für das jüngere Lebensalter geeignet.“
Künstliche Gelenke für Schüler
Ob sich das jüngere Lebensalter wohl über die Geschenke freut? Auch wenn der Professor so freudig auspackt, er ist nur der Überbringer. Empfänger der Pakete sind Schüler der Gymnasien Marion Dönhoff und Lise-Meitner. Gestiftet hat die Kunstgelenke für Hüfte und Knie in zweifacher Ausfertigung die Firma Link in Norderstedt, ein Hersteller orthopädischer Implantate. Geschäftsführer Helmut Link überzeugte die Idee, mit einem „Modul Medizintechnik“ Hochschulen und Schulpraxis enger zu verzahnen.
Alles über Kräfte
Das Modul befindet sich noch in der Planung und zwar ebenfalls in zweifacher Ausfertigung. Einmal als Basismodul für die zehnten Klassen zum Thema „Kräfte, die im Körper wirken“, in Zusammenarbeit mit dem Institut für Biomechanik an der TUHH, das Michael Morlock leitet. Dann als Aufbaumodul für die Physikprofilklassen und in Kooperation mit Professor Frank Mantwill von der Helmut-Schmidt-Universität. Welche Kräfte wirken in Prothesen, wie wirken sie und wie kann man sie messen, lauten hier die Leitfragen. Aber interessiert das auch die Schüler?
Verkaufsstrategien
Ja, meint der Arbeitskreis Medizintechnik, zusammengesetzt aus drei Lehrern und zwei Professoren, die jetzt schon zum vierten Mal planen, diskutieren und ausformulieren. Es komme allerdings schon darauf an, das Thema richtig zu verkaufen: „Wenn man Neuntklässlern mit künstlichen Hüften kommt, winken die erst mal ab. Das ist doch was für alte Leute“, erklärt Henryk Thier, Physiklehrer am Lise-Meitner-Gymnasium. Aber wenn man den Schülern den Bezug zum eigenen Körper erläutere, etwa bei sonst eher abstrakten Themen wie Gleichgewicht, Spannung oder Energie, sehe das schon ganz anders aus. „Auch das ist Teil des Lebens.“
Ausgefeilte Hebelwirkung
Physiklehrerin Hilke Söhle hat auch schon ein Beispiel, wie das geht. An zwei verbundene Metallstäbe hat sie eine Feder, einen Holzarm und ein Gewicht angebracht. Die aufgehängten Federn symbolisieren – abhängig von der Richtung der Zugkraft – mal den Bizeps als einseitigen Hebel, mal den Trizeps als zweiseitigen Hebel. Um ein kleines Gewicht halten zu können, muss eine zwanzigmal so große Kraft aufgewendet werden, ergibt die Messung. „Warum macht der Körper das so, wir wollen doch Kräfte sparen“, fragt die Physiklehrerin stellvertretend für ihre Schüler. „Ja, warum?“, greift Morlock die Frage auf. „Wenn ich meinen Bizeps hier vorne angreifen lassen könnte, hätte ich einen Megaarm, der sehr viel Angriffsfläche bieten würde", verdeutlicht Söhle.
Von der Schule zur Forschung
Dass es bei der Medizintechnik um elementare Gesetze der Physik und Mechanik geht, die am eigenen Körper beobachtet, erklärt und über die auch philosophiert werden darf, ist das Spannende daran, ist sich der Arbeitskreis einig. Die Beiträge des Biomechanikers Morlock haben hier längst Wirkung entfaltet. Über das Lehramtsstudium Mathe und Sport ist Morlock zum Thema Antizipation im Sport, über das Medizinstudium zum Druckverteilungssystem gekommen. Heute ist er froh, die Orthopädie gegen die Sportbiomechanik ausgetauscht zu haben: „Das ist doch viel sinnvoller als einen Schuh zu entwickeln, mit dem man hundert Kilometer am Stück laufen kann.“
Steigender Bedarf
Sinnvoll schon deshalb, weil es die heutigen Schüler elementar betrifft: „Wie viele Leute haben Gelenkprobleme!“ Das ist für den gebürtigen Stuttgarter keine Frage: Jeder sechste Bundesbürger lebe bereits mit einem Kunstgelenk. Wenn die heutigen Schüler in der Mitte ihres Lebens stehen, dürfte es bereits jeder dritte sein, so eine düstere Prognose. „Wir degenerieren.“ Warum das so ist und wie man mit sinnvoller Bewegung dagegen halten kann, will der begeisterte Golfer, Tennisspieler und Skifahrer den Schülern in einer Einführungsvorlesung am Institut nahelegen. Anschließend sollen die Schüler in fünf Arbeitsgruppen und unter Begleitung eines Assistenten eigene Fragestellungen entwickeln und Morlock drei Tage später in der Schule die Ergebnisse präsentieren.
Lernen mit Begeisterung
Zur Auswahl stehen die Themen Gelenkersatz, Knorpel, Materialien oder Alternativen. Aber das seien nur Vorschläge, Lernanreize, keine Korsetts: „Ich bin ein Fan des projektorientierten Lernens“, betont der Professor. Das sei nun einmal die praktische Erfahrung aus seiner Lehrtätigkeit: Was man nur rezeptiv aufnimmt, geht schnell wieder verloren. Was man selbst erarbeitet, durchdacht und einen womöglich begeistert hat, gibt man auch hinterher mit Begeisterung weiter.
Zwischen Be- und Entlastung
„Nehmen wir mal das Beispiel Knorpel“, tritt der Professor letzten Zweifeln entgegen. Was für Laien ein nahezu knochentrockenes Thema ist, ist für Morlock „ein höchst interessantes Gewebe, das sich nur unter Belastung regeneriert“ – und damit ist kontinuierliches Bewegen statt Gewichtszunahme gemeint. „Knorpel braucht den Reiz der Bewegung, das ist für ihn wie ein Training on the job.“ Dagegen könne das einseitiges Bodybuilding das Gegenteil bewirken: Der Knorpel platzt weg, weil der Muskel zu stark wird.
Werbung für die Wissenschaft
Wenn die Schüler solche Erkenntnisse aus der Projektwoche mitnehmen, sei schon ein wichtiges Ziel erreicht, resümiert der Biomechaniker. „Für das eigene Leben lernen.“ Das zweite lautet, die Hochschulen von innen kennen lernen: „Wir möchten natürlich, dass die guten Schüler zu uns kommen“, gibt der Institutsleiter freimütig zu. „Das macht neunzig Prozent meiner Motivation aus, hier mitzumachen.“ Dann bleibt nur noch zu hoffen, dass die Gymnasiasten Michael Morlocks Motivation nicht enttäuschen – wäre schade, wenn der agile Professor an Verve verlöre.