Nerds sind überall gefragt - was sich mit dem Fach Informatik alles machen lässt
05.05.2019„Nerdisch by nature“ steht auf Marc Dellings grauem Hoody. Der Entwicklungschef für Mobile Dienste bei Silpion will 12 Schülern der Oberstufe im Rahmen des NAT-Formats „90 Minuten MINT“ erzählen, was ein Nerd eigentlich macht. Zum Beispiel Apps entwickeln. Das dürfte die Schüler interessieren, denn die nützlichen Applikationen haben sie alle auf ihren Handys. Ein kurzer Check: Wie viele sind es denn? 33 zählt ein Schüler aus St. Petersburg – die Silpion-Besuchergruppe ist binational zusammengesetzt: Sechs Schüler vom Gymnasium Lohbrügge und sechs Austauschschüler aus St. Petersburg, die diese besondere Form der Berufs- und Studienorientierung dank der Stiftung Deutsch-Russischer Jugendaustausch erleben.
Mensch-Computer-Interaktion immer im Blick
Delling und sein Team entwickeln im Apps für ganz unterschiedliche Einsatzbereiche, von Solaranlagen über Küchenmaschinen bis hin zu Anwendungen für Events und mobile Dienstleistungen. So hat sein Team bei der Entwicklung der App für MOIA mitgewirkt. Das Konzept des vor wenigen Wochen gestarteten Sammeltaxi-Dienstes beruht auf moderner Mensch-Computer-Interaktion. Und das ist es, worum es bei dem IT-Dienstleister Silpion, neben klassischer Software-Entwicklung, im Grunde geht. Schließlich schreitet die Digitalisierung immer weiter voran, der Umgang mit Computern sollte also leicht und unkompliziert sein. Um den rasanten technologischen Fortschritt zu erklären, wirft der 42-Jährige zunächst einen Blick zurück in die Industriegeschichte. „Zu Zeiten der Dampflok haben Menschen auch schon Maschinen beherrscht, aber das war harte Arbeit“. Kein Vergleich mit heutigen, computergesteuerten Zügen, deren Lokführer vor allem eine Reihe von Bildschirmen im Auge behalten müssen.
Der Computer in der Hosentasche
Doch zurück zu MOIA. Hier läuft die Mensch-Computer-Interaktion über das Smartphone, den Computer in der Hosentasche. Und die Interaktion soll möglichst bequem funktionieren: Niedrigschwellig für den Kunden und personalsparend für den Anbieter. Statt also den Fahrwunsch über ein mit Menschen besetztes Callcenter laufen zu lassen, übernimmt eine App die Koordination – intern und extern. Buchung, Bezahlung, Schichtplan, Fahrrouten bis hin zum Öffnen des Wagens, alles digitalisiert. Smartphone genügt. „Trotzdem reden wir hier wahrscheinlich von einer Übergangstechnologie“, erklärt Delling. Google Glasses oder die Apple Watch sind alternative Beispiele, wie an der Technologie von morgen gearbeitet wird. Die Tastatur beispielsweise hält Delling für einen Anachronismus, der noch aus der Zeit stammt, als Computer vor allem für bessere Schreibmaschinen gehalten wurden. Spracherkennung sei eine Möglichkeit, die Tastatur zu ersetzen, Ambient Computing eine andere: Eine intelligente Umgebung, die beispielsweise durch Gestensteuerung aktiviert werden könnte. Und dann gibt es da ja noch die Idee der Integration von Technologie in unsere Körper… Ein Chip im Kopf, der uns sagt, wann wir aufstehen sollen und was heute alles zu tun ist? Diese Idee gefällt den Schülern nicht so recht. Die Reaktionen reichen von „gefährlich“, angesichts ausgefuchster Hacker, über skeptisch „und was ist, wenn der Computer sich aufhängt?“ bis hin zu „durchaus möglich, aber wohl erst in 20 Jahren.“
Informatik betrifft alle Lebensbereiche
Was die Zukunft tatsächlich bringt, kann auch Delling nicht voraussagen, doch das mache es ja gerade so interessant: Am Puls der Zeit zu arbeiten, dabei ganz verschiedene Ansätze zu verfolgen und auszuprobieren. Ein weiteres Plus für das Nerd-Dasein: „Die Informatik betrifft alle Lebensbereiche. Ich habe schon an sehr vielen ganz unterschiedlichen Projekten gearbeitet, ob Medizintechnik, Werbung, Verlagswesen und Fernsehen bis hin zu Haushaltsgeräten.“ Zudem müsse es keineswegs ein klassisches Informatikstudium sein, das in sein Berufsfeld führe. Jede MINT-Ausbildung öffnet Türen, ist Delling überzeugt. Und in den Silpion-Teams sitzen neben Mathematikern und Physikern beispielsweise auch Philosophen und Psychologen. Denn bei der Entwicklung von neuen Apps geht es immer auch um das Verständnis des Users: Was wünscht sich der Nutzer? Was ist er bereit zu investieren – Geld aber auch Zeit – und wo liegen etwaige Schmerzgrenzen?
Die Realität ist immer komplex
Apropos App-Entwicklung. Wie geht das eigentlich ganz konkret? Die Kommunikation zwischen Kunde und Entwicklerteam steht am Anfang, erzählt Delling. „Dann sammeln wir Anwenderfälle, sogenannte Use-Cases, entscheiden uns für die passende Technologie und schließlich wird programmiert.“ Mathematik ist dabei ein wichtiger Faktor, die Mathe-Note als solche jedoch nicht, betont Delling. „Das für uns Wichtige an der Mathematik ist, dass es hier eigentlich um abstraktes Denken geht.“ Die Realität ist immer komplex. Um nun Lösungsstrategien in Algorithmen umzusetzen, ist ein abstraktes Verständnis des jeweiligen Problems nötig, „um zum Kern des Problems vorzudringen und alles Unwichtige bei der Lösung wegzulassen“, erklärt er.
Abstraktes Fach greifbar präsentiert
Die 90 Minuten nähern sich dem Ende, Pizza und Kickertische warten. Dellings Ansatz, aufzuzeigen, was in der Informatik alles machbar ist, scheint aufgegangen zu sein. Lehrer Sven Alisch jedenfalls findet, das eher abstrakte Fach sei durch den Besuch bei Silpion greifbar geworden. Seine russische Kollegin stimmt ihm zu, ihren Schülern habe es sehr gut gefallen. Auch der 17-jährige Marten ist mit dieser Form der Berufsorientierung sehr zufrieden. „Das ist viel besser als eine Liste mit Berufen, die wir aufgrund unserer Stärken und Interessen zusammenstellen.“ Das Nerd-Berufsfeld sei locker und interessant rübergekommen. Strebt er eigentlich eine Informatik-Karriere an? „Ich überlege aktuell eher Stadtplanung oder Bauingenieurwesen zu studieren. Aber nun weiß ich ja, dass da auf jeden Fall auch die Informatik reinspielt.“