Mathe auf linear gesteigertem Niveau - Oberstufenschüler lernen Hochschulpraxis mit MATLAB kennen
13.02.2012„Er macht es nicht“, beschwert sich Marlo. Gemeint ist weder sein Tischnachbar Karim zur Linken, noch Tunahan zur Rechten, sondern der Rechner vor ihm. Der hat sich über das Internet auf die Software MATLAB eingeloggt und rechnet nun aus, was ihm die Schüler vorgeben. „Programmieren Sie den Algorithmus in MATLAB", lautet die Aufgabenstellung an diesem Freitagnachmittag. Draußen herrscht strahlender Sonnenschein und beißende Kälte. Man könnte sich vorstellen, Schlittschuh zu laufen oder das Wochenende entspannt bei einer Tasse Tee einzuläuten.
Rechenvorschrift zur Halbwertzeit von Caesium
Doch im Informatikraum am Gymnasium Grootmoor sind die Vorhänge halb zugezogen, damit die Blicke ungestört über die in Arbeitstischen eingelassenen Bildschirme wandern können. Acht Schüler und drei Schülerinnen unterschiedlicher Gymnasien haben sich daran verteilt, das Arbeitspapier aus dem NaT-Mathematikkurs digital oder ausgedruckt vor sich. Im letzten Kurs hatten die Teilnehmer eine Funktion aufgestellt, die einen Zerfallsprozess beschreibt, dann einen Algorithmus, das ist eine in einer Formel abgefasste Rechenvorschrift. Es geht um die Halbwertzeit des radioaktiven Isotop Cäsium-137, ein Produkt der Kernspaltung, das nur sehr langsam zerfällt: nach 30 Jahren ist noch die Hälfte der Teilchen übrig.
Kaninchen und Füchse simulieren
Es geht auch darum, was das mit Mathematik zu tun hat: „Differentialgleichungen beschreiben immer dynamische Prozesse in der Natur, eben auch radioaktive Zerfälle“, erklärt Kursleiter Nicolai Rehbein. Komplizierter werde das noch bei Räuber-Beute-Fragestellungen: „Wenn ich am Anfang die Zahl x an Kaninchen und die Zahl y an Füchsen habe, wie entwickelt sich das Verhältnis nach soundso vielen Jahren.“ Solche Fragestellungen könne man mit dem Programm sehr schön simulieren, sagt Rehbein und tippt auf einen der Bildschirme, auf denen „MATLAB“ läuft: eine kommerzielle Software aus den USA und eine Abkürzung für „Matrix Laboratory“.
Hinter allem: die Mathematik
Hinter allem steckt Mathematik und vieles ist mit Mathematik lösbar, so die Botschaft der NaT-Mathekurse. Bis aber die Oberstufenschüler auf die Füchse und Kaninchen losgelassen werden, müssen sie sich noch weiter mit der Software auseinandersetzen. Was nämlich auf dem Papier hoch komplex und nur schwer zu rechnen wäre, ist mit Matlab auch schon für Schüler machbar, für die guten allemal. Dafür müssen die Schüler die passende Gleichung aufstellen und in eine Form bringen, die das Programm lesen kann: „Das ist wie eine Programmiersprache“, erläutert Rehbein, „man muss die Befehle alle selber schreiben und wenn man etwas falsch eingetippt hat, kommt eine Fehlermeldung.“
Zum wahren Ingenieursleben
Zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, will die Initiative NaT mit den Mathematikkursen: Leistungswilligen Schüler einen Zusatz bieten und zukünftige Ingenieure sowie Naturwissenschaftler auf das Studium vorbereiten: „Das wahre Ingenieursleben findet nicht mehr auf dem Papier, sondern auf dem Rechner statt“, sagt Diplomingenieur Rehbein, der gerade an seiner Promotion arbeitet. Um auch von Nachwuchsmathematiker eine Rückmeldung über ihr System zu bekommen, stellen es die nordamerikanischen Hersteller kostenlos zur Verfügung. Die Finanzierung der Kursleiter übernehmen Universität Hamburg, TUHH, Schulbehörde und NaT gemeinsam.
Praxisorientierung gefragt
„Im Vergleich zu der Schulmathematik ist dies hier schon eine Herausforderung“, sagt Carolin vom Gymnasium Oberalster. „Über die Programmierung bekommen wir ein tieferes Verständnis von Funktionen.“ Vorteile haben dabei Schüler, die schon einen Informatikkurs besucht haben, wie Dorothea und Katja vom Gymnasium Grootmoor. Allerdings wünschen sich die beiden zukünftigen Mathematikstudentinnen noch mehr Praxisorientierung: „So macht es auch Spaß“, sagt Dorothea, „aber der Titel ‚Mathematik in der Praxis’ klingt noch stärker nach Anwendung.“
Hinterfragen erwünscht
Mehr Praxis folge, verspricht Doktorand Rehbein. „Wir wollen bis zu den Frühjahrsferien Differentialgleichungen mit Matlab lösen. Dann kommen Ausgleichsrechnungen dran, um Prozesse aus der Wirtschaft darzustellen.“ Es sei aber nicht ganz einfach, Teilnehmer aus so unterschiedlichen Schulen unter einen Hut zu bringen: „Das ist eine heterogene Gruppe und was für den einen Wiederholung ist, ist für den anderen ganz neu.“ Zudem legt der Kursleiter Wert darauf, dass die Schüler Ableitungen, Formeln und sogar die Lehrkraft hinterfragen: „Einfach nur glauben, was der Lehrer sagt, das bringt in Mathe nichts. Es geht ums Verstehen.“
Mathegestärkt ins Wochenende
Auf diese Weise hat Tunahan vom Gymnasium Meiendorf erfahren, wie die Ableitungsregeln, die er gerade in der Schule kennen gelernt hat, auch tatsächlich zustande gekommen sind. „Es ist toll Hintergrundwissen zu bekommen“, sagt der 17-Jährige, der jetzt wieder Marlo über die Schultern schaut. Der „Grootmooraner“ will den radioaktiven Zerfall des Cäsiums in minimalen Intervallen berechnen lassen: Startwert ist 1000 (so viele Caesium-Atome sind anfangs noch vorhanden), die Schrittweite extrem klein, der Endwert unter 1. Das Programm rechnet und rechnet – und schmiert ab. „Lost the connection to the server“, meldet der Bildschirm. „Na, super, du hast es geschafft“, tönt Teampartner Karim vom Heilwig Gymnasium. Die schulübergreifende Arbeitsgruppe geht dennoch mathegestärkt ins Wochenende: „Wäre toll, wenn so etwas in den Unterricht integriert würde. Ist doch gar nicht so teuer und ganz leicht zu bedienen“, meint Karim.