Wenn die Lösung nicht im Lehrbuch steht
12.06.2014Die Lösung einer Aufgabe nicht im Lehrbuch finden zu können, ist ungewohnt für die 12.-Klässler. Noch ungewohnter ist es für ihre Lehrer. „Auch wir kannten die Antworten vorab nicht“, erklärt Informatiklehrerin Andrea Schmidt. Und so wird es bei der Abschlusspräsentation des Kooperationsprojektes zwischen der Stadtteilschule Walddörfer und der Hamburger Hochbahn am 12. Juni spannend. Stimmen die errechneten 70 Cent Energiekosten pro U-Bahn auf einer Drei-Kilometerstrecke, die in 200 Sekunden zurückgelegt wird?
„Ist das realistisch?“
Gestellt hatte die praxisbezogenen Aufgaben rund um Fragen der Energieeffizienz zweier zu vergleichender Fahrzeugbaureihen Hochbahn-Ingenieur Jürgen Kunzendorf. Der runzelt nun die Stirn. „Ist das realistisch?“ – „Das fragen wir Sie“, geben die Schüler Jonathan und Tobias, beide 18 Jahre, gespannt zurück. Kunzendorf zückt einen Taschenrechner und verkündet kurz darauf: „Das ist verdammt genau. Glückwunsch!“
Das Unmögliche möglich machen
Drei Monate hatten die 14 Schüler im Profil „Zukunftstechnologien“ Zeit für den umfassenden Aufgabenkatalog. Den Startschuss im April gab ein Besuch in der Betriebszentrale, den Werkstätten sowie ein Probelauf im Fahrsimulator bei der Hochbahn. Dann wurde fächerübergreifend in Kleingruppen gearbeitet. Als erstes mussten in Physik die Formeln errechnet werden. „Das war mathematisch sehr anspruchsvoll, aber die Schüler haben sich voll reingekniet“, berichtet Physiklehrer Dominik Flaig. Anschließend folgte die Umsetzung der Formel in eine Simulation im Fach Informatik. Schon bald zeigte sich jedoch, die Simulation musste Aufgabe für Aufgabe aufs Neue angepasst und weiterentwickelt werden. Der damit verbundene Zeitaufwand wurde zum Problem. „Der Präsentationstag rückte unbarmherzig näher und es war noch so viel zu tun. Irgendwann hieß es, das Unmögliche möglich machen – und es hat geklappt“, freut sich Schmidt.
Lösungen auf dem Prüfstand
Auch der Mann aus der Praxis hatte die Ergebnisse keineswegs parat. „Wir stellen die Aufgaben, Sie erarbeiten Lösungen und die kommen dann auf den Plausibilitäts-Prüfstand“. Wobei es Kunzendorf weniger auf die exakte Kilowattstunde ankommt, als vielmehr darauf, das physikalische Grundverständnis der Schüler zu stärken. Und kluge Köpfe als künftige Mitarbeiter zu gewinnen. Vielleicht klappt das beim 19-jährigen Samer – er hatte die in den Gruppen erstellten Folien zu einer Gesamtpräsentation zusammengestellt und den schwierigen Part als erster Sprecher übernommen. „Die Einblicke in das Unternehmen fand ich sehr interessant. Aber erst wird studiert“, sagt er. Eigenständiges Arbeiten als Vorbereitung auf die Hochschule hat die Gruppe durchaus trainieren können. Die Aufgaben fielen dieses Jahr – die Kooperation ging in die 4. Runde – sehr komplex und anspruchsvoll aus. „Wir entwickeln die Fragen immer weiter und vielleicht haben sie dieses Mal ganz besonders viel Gehirnschmalz erfordert“, lacht Kunzendorf.
Faktor Mensch
Auch der „Faktor Mensch“ wurde entlarvt. Amelie testete die Simulation auf realer Strecke von Ohlstedt nach Volksdorf. Ergebnis: „Die Kosten sind höher. Die Fahrer halten sich nicht an das optimale Beschleunigungsmuster, wie es die Simulation vorgibt“, erläutert die 18-Jährige. Kunzendorf nickt, „Ja, das ist die Krux mit Theorie und Praxis. Es sitzen eben Menschen im Führerstand, keine Maschinen.“ Den Schülern jedenfalls gefielen die vielfältigen Herausforderungen. „Es war interessant und hat uns voran gebracht. Wir mussten unsere Ergebnisse immer wieder aufs Neue hinterfragen und mit Logik und Wahrscheinlichkeit arbeiten“, fasst Gregor (18) stellvertretend für die Gruppe zusammen.
Der ultimative Praxisbezug
Und was macht nun Kunzendorf mit den ihm präsentierten Ergebnissen? Die nutze er als wertvolle Hinweise für die Praxis, so der Ingenieur. Von den Leistungen der Schüler ist er zwar beeindruckt, merkt jedoch an, dass der Faktor Luftwiderstand nicht berücksichtigt worden sei. Aus reinem Zeitmangel. „Jedenfalls fließen die Ergebnisse in die Arbeit der „Projektgruppe DT6“ ein. Der neue „Doppeltriebwagen Baureihe 6“ befindet sich in der Entwicklungsphase. „2021 soll er rollen“, erläutert Kunzendorf. Schmidts Augen leuchten auf. „2021? Da haben wir ja noch genügend Zeit den Luftwiderstand zu berücksichtigen – wenn es nächstes Jahr mit den nächsten 12.-Klässlern in die fünfte Runde geht!“