Lang gerechnet, kurz geflogen – reichlich Spaß gehabt

20.05.2011

Breit und schwer liegt der „weiße Drache“ auf der Startrampe. Andre zählt bis drei, dann löst er die Spannung: das Seil schnellt nach vorne, der Flieger hinterher, hebt ab, kippt, dreht zurück und fällt wie ein Stein zu Boden – gerade mal 0,4 Meter hinter der Startlinie. Andre zuckt mit den Schultern: „Ihr wolltet, dass ich das übernehme.“ Justin hebt das Flugzeug auf, das die Gruppe „White Dragon“ genannt hat, weil es das größte und mit einem Gewicht von 31,4 Gramm auch schwerste Modell im Wurfgleiterwettbewerb ist. Sich selbst hat das Team den Namen „Starkiller“ gegeben: „Wie peinlich“, murmelt Anne. 

Fünf Cent fürs Gewicht

Aber es gibt überhaupt keinen Grund zur Scham: Es ist die erste Runde im Flugwettbewerb der Hochschule für Angewandte Hochschule HAW, der in der Sporthalle des Gymnasiums Ohmoor in Niendorf ausgetragen wird. Zwei weitere Durchläufe werden folgen und damit ist noch Zeit, ein paar Verbesserungen vorzunehmen. Dustin weiß auch schon wie: „Wir müssen mehr Gewicht nach vorne bringen und den Schwerpunkt verlagern.“ Die Elftklässler bohren ein weiteres Loch in den Depron-Schaumstoff, verlagern einen kleinen Bolzen um zwei Zentimeter nach vorne und kleben noch eine Fünfcentmünze an die Flugzeugnase.

Initiative NAT, Thomas Rokos
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Mythologie und Naturwissenschaft

Die Starkiller sind das erste Team von insgesamt sechs, deren Zeiten, Maße und Flugmeter heute auf den Prüfstand kommen. Die anderen Teams nennen sich Ikarus, Tante Ju oder gar die Jünger Gottes. Aber was die Oberstufenschüler gebaut haben, hat nichts mit Mythologie, Nostalgie oder Gottvertrauen zu tun: Es geht um pure Mathematik, eine Menge Physik und ein wenig handwerkliches Geschick. „Wir haben drei bis vier Monate gerechnet und drei bis vier Stunden an den Modellen gebaut“, fasst Philipp, ein „Jünger Gottes“ zusammen. „Es ging in erster Linie darum, dass Prinzip zu verstehen. Die Praxis heute soll die Theorie untermauern.“

Intensive Vorarbeit

Die Theorie ist ein fünfzigseitiges Kompendium von Aerodynamik-Professor Detlef Schulze, eine Anleitung zum wissenschaftlichen Flugzeugbau inklusive Rechenplan. Den haben die Schüler intensiv studiert, besprochen und angewendet: „Wir haben uns auf eine bestimmte Flügelform festgelegt und entsprechend alle weiteren Maße errechnet. Das war eine ziemlich lange Rechnung“, sagt Simon und setzt einen kleinen, grimmig dreinblickenden Wurfgleiter auf die Startrampe. „Vortex“ hat die Gruppe „Tiny Wings“ ihren Flieger getauft. Was für Uneingeweihte nach Staubsauger klingt, ist in der Strömungslehre ein Synonym für Wirbel.

Initiative NAT, Thomas Rokos
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Keine Verletzten

Einige Wirbel schlagen die Wurfgleiter schon, wenn sie unter zunehmender Spannung in die Luft geschleudert werden. Professor Schulze und Tutor Volker Schüller haben ein Katapult mitgebracht und auf einen Turnhallenkasten aufgebaut. Mit jeder Runde erhöht Volker Schüller die Spannung: Und wenn die Flügel dem Druck nicht mehr standhalten und zerfetzen? „Davon gehen wir aus“, sagt Schüller und grinst. Aber das Material hält, alle Wurfgleiter überstehen den Wettbewerb unbeschadet und kommen damit eine Runde weiter. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte: nicht alle Wurfgleiter haben so gut abgeschnitten, wie der „White Dragon“, der in der letzten Runde fast 16 Meter weit fliegt.

Ein Schritt nach vorne, zwei zurück

Viele Wurfgleiter sind steil nach oben gestartet und ebenso steil wieder heruntergekommen – die eigensinnige „Tante Ju“ sogar in Gegenrichtung, fünfeinhalb Meter vor der Startlinie. „Das verstehe ich nicht“, schimpft Jacqueline, „wir sind die einzige Gruppe, die genau nach Plan gerechnet hat, und unser Flieger kommt immer wieder zurück.“ Professor Schulze beruhigt: „Das werden wir uns noch einmal bei Eurer Präsentation genau ansehen.“ Auf jeden Fall sei es sehr ungünstig, dass die Tante Ju einen schiefen Flügel hat. 

Initiative NAT, Thomas Rokos
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Lösungen selbst erarbeiten

Neben dem Rechenweg ist eben auch ein wenig handwerkliches Geschick von Nöten, um Bumerangeffekte zu vermeiden. „Noch ist nicht alles gesagt“, beendet Professor Schulze den ersten Wettbewerbsteil. In die Präsentation an der HAW am 01. Juni sollen die Schüler ihre Erfahrungen aus dem Flugwettbewerb einfließen lassen: „Die Reflexionsphase ist Teil der Präsentation. Daher kriegen die Schüler jetzt auch keine Tipps, was sie hätten besser machen können, das müssen sie sich schon selbst überlegen“, sagt Kursleiter Dirk Loy.

Ansporn durch praktische Ziele

Der Physiklehrer würde sich wünschen, dass ein wenig von dem Wettbewerbsschwung in den normalen Physikunterricht einfließt. Nicht einmal als das umfangreiche Kompendium von Professor Schulze verteilt wurde, habe es Proteste gegeben: „Das war der Reiz“, so Loy, „der Reiz, die Flugzeuge zu bauen.“ Die Motivation mache so viel aus: „Die zeigen im Seminar eine Höchstleistung, die sie im normalen Unterricht so nicht an den Tag legen.“ Das sei zwar super für das Seminar,  aber frustrierend für den normalen Unterricht, findet der Physiklehrer: „Ich schreibe Abitur in Physik und nicht im Seminar.“

Wissen und ein Quäntchen Glück

Schade eigentlich, findet Dustin, der speziell für das Ohmoor Profil „Fertig zum Abheben“ die Schule gewechselt hatte. Aber in diesem Moment ist der 17jährige einfach nur erleichtert, dass der weiße Drache doch noch in Schwung gekommen ist und glücklich, dass seine Gruppe gewonnen hat: „Die Praxis ist eben doch anders als die Theorie.“ Den Steigungswinkel der Startrampe hätten die Teams beispielsweise gar nicht gekannt und daher auch nicht mitberechnen können. Teamkollegin Anne meint, dass die steigende Geschwindigkeit am Start den Ausschlag gegeben habe. Ein wenig Glück muss der Ingenieur bei aller Berechenbarkeit und Systematik halt auch haben.

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