Kunststoffe, die beflügeln
30.01.2013Sie sind schwarz wie Pech, Gift für die Lunge und die Pest für Hände und Finger: „Einmal angefasst und schon hat man schwarze Hände“, schimpft Oberingenieur Hans Wittich und verschließt die Plastikbox mit den glänzenden Kohlenstoffnanoröhrchen mit einem lauten Klick. Und doch gehen vom CNT, wie die Carbon Nanotubes im Fachjargon heißen, Glanz und Faszination aus. „Was machen Sie damit genau?“, will Jonas wissen. „In einer Wissenschaftssendung habe ich gesehen, dass dies der Stoff ist, aus dem ein Weltraumfahrstuhl bis zum Mond gebaut werden soll. Sind Sie daran auch beteiligt?“, fällt Leo ein.
Inmitten von MINT
Die beiden Oberstufenschüler vom Gymnasium Ohmoor besuchen im Rahmen ihrer Fachtagewoche die Technische Universität Hamburg-Harburg. Neben Schülerlabor und Uniatmosphäre stehen auch vier Kurzexkursionen im Angebot. So geht es für „90 Minuten MINT“ etwa an das Institut für Thermofluiddynamik, wo Professor Gerhard Schmitz untersucht, wie Flugzeuge effizient gekühlt und belüftet werden können. Oder an das Institut für Kommunikationsnetze, wo der Mobilfunkexperte Professor Andreas Timm-Giel sich mit den Schülern über das Internet der Zukunft und intelligente Kommunikationsnetze austauscht. Oder an das Institut für Theoretische Elektrotechnik.
Zu Gast im Institut für Kunststoffe und Verbundwerkstoffe
Doch Leo, Jonas und sechs weitere Kursteilnehmer haben die Kunst- und Verbundwerkstoffe gewählt. „Die Kohlenstoffnanoröhren besitzen Eigenschaften, die mich neugierig gemacht haben“, erklärt Jonas. „Die Zugfestigkeit ist sensationell.“ Leo dagegen kommt eher bei den Faserverbundstoffen ins Schwärmen: Das sind dünne Kohlenstofffasern, die gebündelt und zu Matten verwebt werden. Getränkt mit Kunststoffharz lassen sie sich formen und verbauen, bevor sie „bei 180 Grad und 7 bar im Druckbehälter, dem Autoklaven aushärten“, wie Hans Wittich erläutert. „Kohlenstofffaserverstärkter Kunststoff, kurz CFK, ist sehr leicht, sehr steif und ermüdungsresistent“, fasst der Ingenieur die Vorteile für den Flugzeug- oder auch Fahrzeugbau zusammen.
Ultraleicht und crashsicher
Marvin bleibt skeptisch: Wenn das Material so fest ist, müsste doch auch der Verschleiß hoch sein, so seine Überlegung. „Die Lebensdauer von CFK ist besser als die von jedem Metall“, hält Wittich dagegen. „Über den Kunststoff werden Kräfte aufgefangen und wieder in die Faser eingeleitet. Die Faser kann daher in viele kleine Stückchen zerbrechen und dennoch die Struktur halten.“ Abschließend reicht der promovierte Physiker eine Kunststoffplatte und zum Vergleich eine Metallplatte herum – gefühlt wiegt letztere mindestens das Fünffache der ersten. Ein wahrer Stoff zum Abheben: „Nur schade, dass er so schweineteuer ist“, findet Leo.
Einblicke ins Labor
In seiner Freizeit baut der Gymnasiast Modellflugzeuge. Und ist damit der richtige Mann für das Profil „Fertig zum Abheben“, das im kommenden Semester im Rahmen des NaT-Moduls Aerodynamik an einem Wurfgleiterwettbewerb teilnehmen wird. Vorher erfahren die Schüler aber noch, wie an der TUHH in kleineren Mengen viel perfektere Carbon Nanotubes als in der Industrie hergestellt werden und wozu man sie verwendet. „Unsere sind gerichtet“, sagt Wittich und hebt eine schwarze Platte in einer transparenten Dose vor einem gelblich belaufenen Reaktor hoch. Nur leider können die Schüler den Röhrchenwald vor lauter Nanobäumen nicht sehen – viel zu klein sind die Strukturen. „Warum da aus Eisen und Gasen bei bestimmten Temperaturen nicht einfach nur amorpher Ruß, sondern gerichtete Strukturen entstehen, weiß kein Mensch. Das ist einfach nur gut Glück.“
Der Traum vom Lift ohne Limit
Die Wissenschaftler halten bei ihren Versuchen aber fest, wann die Röhrchen besonders gut wachsen und wann nicht. In einem anderen Labor mischen sie das CNT mit Kohle und stellen so Proben her, die in einem dritten Labor etwa an der Zugprüfmaschine oder der Waage getestet und berechnet werden. „Eine hochfeste Faser zu bauen, daran arbeiten wir auch“, sagt der Oberingenieur. An der Universität Cambridge werden die Tubes gerade zu einer längeren Faser aufgewickelt. „Zum Mond reicht es aber noch nicht, zumal die Haftung zwischen den einzelnen Tubes nicht so stark ist.“ Bleibt also der Weltraumfahrstuhl vorerst ein Traum? Jonas und Leo jedenfalls wollen an dem Thema dranbleiben. „Wir haben vermutlich zu viel 'Limit' (Roman von Frank Schätzing, Anm. d. Red.) gelesen, aber das ist schon sehr spannend“, sagt Jonas. Der 17-Jährige könnte sich eine Zukunft als Ingenieur schon vorstellen, lieber in der Praxis als an der Universität. Und irgendwann wird aus Träumen vielleicht doch Wirklichkeit.