Philosophieschüler befragen Wissenschaftler
27.01.2016Ordnung ist die halbe Physik. Und so stapeln sich im Büro von Roland Wiesendanger meterhohe Papierstöße aus Fachartikeln, Antragsformularen und Abschlussarbeiten. Eine Papierflut mit System, wie der Experimentalphysiker deutlich macht, als er aus einem der Stapel zielgerichtet ein Jahresheft des Gymnasiums Grootmoor herauszieht: „Ich bin immer gut vorbereitet“, schmunzelt der Nanotechnologe und zeigt ein Gruppenbild des Physikprofils, das inzwischen im vierten Semester und kurz vor dem Abitur angelangt ist. Vier der abgebildeten Schüler sitzen nun live im Arbeitszimmer des Professors: David, Fiona, Julie und Johanna wollen mehr über Wiesendangers Forschung und deren Finanzierung, Falsifikation und Verifikation, Paradigmenwechsel und neuen Erkenntnisgewinn erfahren. Fragen, die der Philosophieunterricht in den letzten Wochen zusammengetragen hat.
Mit neuen Paradigmen zur Präsi
Organisation ist die halbe Präsentation. Nur eine Stunde, nachdem die Schüler die von Wiesendanger maßgeblich weiterentwickelte Rastersensormethode im Labor inspizieren durften, wollen die anderen Teilnehmer aus dem Philosophiekurs über ihre Erkenntnisse unterrichtet werden: Eine Zehn-Minuten-Präsentation ohne Medieneinsatz nach einem zweistündigen philosophisch-physikalischen Gespräch im Institut für Nanostruktur und Festkörperphysik, das Wiesendanger leitet – eine Herausforderung für die Schüler: „Professor Wiesendanger ist Nanowissenschaftler und hat das Rastertunnelmikroskop weiterentwickelt, mehrere Preise gewonnen und ist extrem erfolgreich“, portraitiert Johanna den Gesprächspartner ihren Mitschülern. „Wir haben ein sehr offenes Gespräch geführt.“
Nobelpreisverdächtig
Offen und partnerschaftlich, man könnte fast sagen, „auf Augenhöhe“, wäre der Begriff nicht so abgedroschen: Roland Wiesendanger jongliert mit Namen von zukünftigen und vergangenen Nobelpreisträgern, dem Abbe‘schen Beugungslimit, der Heisenbergschen Unschärferelation oder den Maxwell-Gleichungen. Da ist es gut, dass die Schüler sich nicht nur mit Philosophie, sondern auch mit Physik auskennen. Auf die Brücke zwischen den Disziplinen gelangt der Nanowissenschaftler dann schon ganz von allein, indem er das Revolutionäre seiner Forschung auch in der Anwendung verdeutlicht: „Wir benutzen heute in der Datenspeicherung Technologien, die Anfang der 90iger Jahre noch völlig unbekannt waren. Und das, obwohl man glaubte, alles schon verstanden zu haben.“ Wie anders die Phänomene auf der Nanometerskala sind, macht der Professor am Beispiel der mikroskopischen Topografie eines Eisenfilms deutlich: „Das sind so drei bis vier Atomlagen und man sieht, wie kompliziert die Strukturen sind, viel komplizierter, als man es sich jemals vorstellen konnte.“
Wie kommt das Neue in die Welt
Genau darum geht es den jungen Philosophen: Wie entsteht technischer Fortschritt, wie setzt er sich gegen Widerstände und alte Weltbilder durch? Dass die Arbeitsgruppen dabei mit gestandenen Wissenschaftlern in Kontakt kommen und Einblicke in Forschungseinrichtungen gewinnen konnten, ist ein guter Nebeneffekt, loben die Schüler. „Ich fand das super“, sagt Johanna. Nicht zuletzt dank der Einblicke in Strukturen der universitären Finanzierung und Förderung. „Der Diskurs mit anderen Wissenschaftlern ist wichtig, aber man muss zwischen echten Anomalien und Wissenschaftlern, die nur aufgrund von Konkurrenz anzweifeln, unterscheiden“, fasst Julie zusammen. Manchmal scheint eben auch die Herkunft eines Forschers wichtiger als seine Erkenntnisse. Oder anders formuliert: Wissenschaft ist zutiefst menschlich.