Alle Gelenke sind Hebel

22.09.2011

Wie könnte er aussehen, der Stoff für den Gelenkersatz von morgen? Eine Frage von vielen, die sich Zehntklässler in einer „Woche der Biomechanik“ stellen. Zumindest in der Arbeitsgruppe „Materialien“ steht diese Frage ganz obenan. Henrik, Tim und Charlie tragen Infos zu Metallschaum oder Carbon Kohlefasern aus dem Internet zusammen. Felix und James meinen dagegen: Heutige Materialien wie die Kombination aus Keramik und Metall haben sich bewährt, man müsste lediglich für einen längeren Verbleib im Körper sorgen und die Abnutzung vermindern. Wie wäre es beispielsweise, wenn sich die äußere Metallschale und das Inlay einer gängigen Hüftprothese gar nicht erst berühren und doch fest miteinander verbunden sind, überlegt Felix. „Man könnte es mal mit Magneten probieren.“

Arbeit unter Zeitdruck

Es ist der dritte Tag der Biomechanikwoche am Marion Dönhoff Gymnasium. Aus organisatorischen Gründen musste sie vor die eigentliche Projektwoche der Schule gelegt werden. Das bedeutet: den Unterrichtsstoff, den Felix, James und alle anderen verpassen, müssen sie nacharbeiten. Den Stoff, den sie gelernt haben, dürfen sie zweimal präsentieren. Einmal vor jungen Nachwuchswissenschaftlern aus dem Institut für Biomechanik. Ein zweites Mal vor den anderen Zehntklässlern, die sich gegen die Woche der Biomechanik und für den regulären Unterricht entschieden haben. Das ist Ansporn und Stressfaktor zugleich. Für die eigentliche Gruppenarbeit bleibt im Kern nur einen Tag Zeit.

Initiative NAT, Thomas Rokos
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Herantasten

Das Experiment, das sich Felix und James vorgenommen haben, muss daher einiges einstecken. Kritik aus den eigenen Reihen und Rückschläge: Zunächst haben Felix und James einen Starkmagneten in der Keramikhülle befestigt und einen Gegenmagneten in eine Schaumstoffkugel aus einem robusten Material eingeführt: „Ab einem bestimmten Winkel reicht das Magnetfeld nicht mehr aus“, sagt James. Im zweiten Anlauf bauen sie den Starkmagneten direkt in die Kugel ein: „Das Magnetfeld umschließt die Kugel. Jetzt funktioniert es bis auf den 90 Grad Winkel“, freut sich James.

Junge Vorreiter

Um ein Haar wäre es allerdings zu diesem zweiten Versuch gar nicht mehr gekommen. Denn die übrigen Teammitglieder treten auf die Bremse: Das funktioniert nicht, sonst wäre es längst entwickelt worden, reine Zeitverschwendung, meinen sie. Bis sich die Lehrerinnen einschalten: „Stopp mal, was ist hier eigentlich Innovation?“, fragt Chemikerin Antje Schmedemann. Wenn man aus dem Internet herausholt, was andere schon entwickelt haben oder eigenen Ideen nachgeht?

Initiative NAT, Thomas Rokos
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An alles denken

„Ist eine interessante Idee“, meint Diplomingenieur Arne Hothan, einer der drei Gäste aus der TUHH, die für die Schülerpräsentationen am vorletzten Projekttag nach Blankenese gekommen sind. Und wenn man an die Magnetschwebebahn denke, funktioniere das im Prinzip ja auch. Aber wie ist das im menschlichen Körper? Ja, sagt Felix, darüber hätten sie sich auch Gedanken gemacht und daher noch eine offene Problemstellung formuliert: „Einerseits bräuchte man stärkere Magneten als wir sie hier in der Schule haben, damit auch eine Belastung von 300 Kilo ausgehalten wird. Andererseits müsste eben auch verhindert werden, dass so ein starker Magnet im Körper auch andere Gegenstände anzieht, den Metalltisch beispielsweise oder den Löffel darauf.“

Einfach aber effektiv

„Was die Wissenschaft voranbringt: eine möglichst einfache Idee zu entwickeln, sie zu prüfen und dranzubleiben“, lobt auch Thomas Winkler das Vorgehen von Felix und James. Der wissenschaftliche Mitarbeiter der Arbeitsgruppe Tissue Engineering hat die Schüler am ersten Tag durch das Institut für Biomechanik geführt und auch die Gruppe Knorpel in der Themenfindung begleitet. Von den Vorträgen der Schüler zeigt er sich begeistert: „Ihr habt euch in kurzer Zeit in ein ganz neues Thema eingearbeitet. Ihr habt die Kernbegriffe wissenschaftlichen Arbeitens beachtet und eure Quellen benannt. Viele von euch haben frei gesprochen und sich Gedanken gemacht, wie sie ihr Thema interessant vermitteln können. Das ist wirklich sehr gut gelungen.“

Initiative NAT, Thomas Rokos
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Spezialisten gefragt

So hat die „Knie“-Gruppe ein Kniegelenk aus Styropor und Stoffbändern nachgebaut – und beispielsweise gelernt, dass die Bänder gar nicht elastisch sind und es auch nicht sein müssen, um die Bewegung zu ermöglichen. Anhand des Modells erläutern sie die Funktionsweise und Bewegungsmöglichkeiten: „Alle Gelenke sind Hebel“, sagt Jannis, „aber im Körper geht es nicht so sehr um die Kraftersparnis, sondern die Wegersparnis.“ Schließlich stellt die Gruppe unterschiedliche Prothesentypen und ihre Probleme vor. „Um die Fehlerquellen bei den Operationen zu verringern, sollten spezialisierte Kliniken für den Einbau eingerichtet werden“, erklärt Sophie den Lösungsvorschlag der Gruppe, der bei den anwesenden Experten auf Zustimmung stößt.

Spielerisch

Die Gruppe „Hüftgelenkersatz“ hat ihre Fragestellung „Wie kann man möglichst viele Revisionsoperationen durchführen?“ in ein Rollenspiel umgesetzt: Der junge Extremsportler Thilo benötigt nach einem Unfall eine neue Hüfte und wird zusammen mit seinem Vater von einem Team von Spezialisten, Assistenzärzten und Chirurgen beraten. „Auch wenn euer Betreuungsschlüssel mit sechs Ärzten für einen Patienten nicht ganz der Realität entspricht, ist da sehr anschaulich geworden“, lobt Arne Hothan die Präsentation, bei der auch einige recht blutige Bilder einer Operation gezeigt wurden. „Das war eher für das Publikum und nicht für den Patienten gedacht“, erklären die Zehntklässler.

Vorbeugung statt Nachsorge

„Knorpelschaden – was tun?“, lautet das vierte Gruppenthema. „Knorpel ernährt sich durch Bewegung.“ Diesen fundamentalen Grundsatz erläutern die Schüler anhand eines Versuches: in ein Wassergefäß mit Farbe wird ein Schwamm gelegt, der von seiner Funktionsweise her dem Knorpel ähnelt. Er saugt sich ein wenig mit Farbe voll. Wird er dagegen in „Bewegung gehalten“, zusammengedrückt und wieder losgelassen, saugt er sich komplett mit Farbe voll: „So farbig, sieht ein gesunder, gut ernährter Knorpel aus.“ Auch wenn das stark vereinfacht und ein wenig plakativ ist, lobt Knorpelspezialistin Elisa Hönig, dass die Gruppe so sehr auf Vorbeugung setzt: „Es gibt viele Möglichkeiten vor der Prothese, das ist gut bei euch herausgekommen.“

Individuelle Vorlieben

Gut herausgekommen ist auch, dass die Gruppen alle sehr engagiert gearbeitet haben. „Es hat Spaß gemacht, sich auf ein Thema zu konzentrieren“, sagt Anselm. Der 16-Jährige würde sich auch freiwillig wieder zu so einer Woche der Biomechanik melden, auch wenn er sich mehr TUHH und weniger Schule wünschen würde: „Es wäre schön, mehr live zu erleben und sich nicht ganz so viel selbst zu erarbeiten.“ Marie und Annelene hätten dagegen gerne mehr Zeit für die Eigenarbeit gehabt und dafür lieber auf die Physik- und Bioexkurse am zweiten Projekttag verzichtet. „Das hat uns nicht so richtig weitergebracht. Das war zu schulisch und hatte zu wenig mit uns zu tun.“

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